Riesling mit Gänsehautfaktor

Riesling mit Gänsehautfaktor

Jährlich findet in Wiesbaden die exklusive Vorpremiere der Großen Gewächse statt. Die deutschen Spitzenweine des Jahrgangs 2019 legten heuer einen besonders starken Auftritt hin. Vor allem den Riesling-Liebhabern sei Gänsehaut versprochen.

Wenn der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) zum jährlichen Verkostungsmarathon nach Wiesbaden ruft, lassen sich die Fachleute nicht lange bitten, denn die Plätze dort sind heiß begehrt – auch in Corona-Zeiten. Von 23. bis 25. August 2020 war es wieder so weit. In den stilvollen Kurhaus-Kolonnaden standen 477 Große Gewächse noch vor ihrem Verkaufsstart im September für die Verkoster und Verkosterinnen bereit.

Top organisiert

Aus 24 Ländern waren 140 Weinjournalisten, Sommeliers und Händler zur Vorpremiere der Großen Gewächse angereist – etwa ein Drittel weniger als sonst, Asiaten und Amerikaner fehlten. Am Eingang wurde täglich die Temperatur der Gäste gemessen. Dazu gab es Maskenpflicht, Einzeltische, Wegemarkierungen in den Sälen und Desinfektionsmittel an jedem Platz. 30 junge Sommeliers und Sommelièren befanden sich im Dauereinsatz, um die gewünschten Weinflights in die Gläser zu schenken. Auch im schwierigen Jahr 2020 war die Organisation perfekt.

Köstlicher Jahrgang 2019

In der Weinszene hat sich für die Großen Gewächse übrigens das Kürzel „GG“ durchgesetzt. GGs sind trocken und kommen von „Großen Lagen“ (nach Klassifikation des VDP). Sie bilden die Speerspitze der deutschen Topweine. Von 477 GGs im Rahmen der Vorpremiere 2020 waren 289 Rieslinge. Ein Großteil der Weine stammte vom Jahrgang 2019, der bereits viele Vorschusslorbeeren erhalten hatte. Und tatsächlich gab es jede Menge Riesling-Highlights.
Während der Jahrgang 2018 von großer Hitze geprägt war und seine Weine oft mit mehr Kraft als Feinheit aufwarten, konnten die Rieslingreben vom Auf und Ab der Witterung 2019 offensichtlich profitieren. Trotz einsetzendem Regen zur Lesezeit kann man 2019 in Deutschland als einen warmen trockenen Jahrgang ohne allzu große Extreme bezeichnen. Geschmacklich verbindet er eine hohe Reife mit erfrischender Kühle. Die besten Rieslinge brillieren mit Balance, Intensität, Feinheit, Struktur und Länge. Auf alle GGs trifft dies nicht zu, doch bei den Topweingütern besitzen die 2019er ganz große Klasse.

Mosel – Nahe – Pfalz

Von der Mosel über den Rheingau, die Nahe und Rheinhessen bis in die Pfalz und Württemberg, bot die Verkostung hohe Qualitäten und jede Menge köstliche Rieslinge – mit feiner reifer Säure, hervorragender Spannung, Tiefe und Eleganz. Viele Weine wirkten bereits zugänglich, ließen aber zudem langes Reifepotenzial erkennen.
Große Freude bereiteten die Weine der Mosel, wenngleich manche Winzer mit ein paar Gramm Restsüße spielten, um eine überaus knackige Säure zu puffern. Eigenständig, teilweise wild, kam die großartige Serie von Heymann-Löwenstein ins Glas. Die Lagen Röttgen und Uhlen „Blaufüßer Lay“ sind herrlich pikant, kernig und fest. Wer die strukturbetonte Eleganz der Weine von Clemens Busch mag, dem sei vom Jahrgang 2019 besonders der kompakte und von dunkler Mineralik unterlegte Marienburg Rothenpfad ans Herz gelegt. Ein heißer Tipp ist auch Schloss Lieser – Thomas Haag. Hier steht wie immer die Feinheit im Vordergrund und die typisch schiefrige Mosel-Nase entzückt ganz besonders bei der Juffer-Sonnenuhr.

Die Nahe zeigte eine besonders hohe Dichte an exzellenten Rieslingen. Die Weingüter Dönnhoff, Diel, Schäfer-Fröhlich, Emrich-Schönleber legen die Latte extrem hoch; Gut Hermannsberg kommt fast heran. Das Halenberg-Match gewinnt Emrich-Schönleber gegen Schäfer-Fröhlich diesmal ganz knapp – zumindest im Moment. Weitere Erkenntnisse bringt nur Flaschenreife.
In der Pfalz fand ich meinen persönlichen „Wine of the Show“: Idig von Steffen und Sophie Christmann, der schnörkellos und kühl, präzise, unglaublich fein am Gaumen schwebt und zugleich zupackt. Gänsehaut!

Artikel erschienen im Magazin Genuss 07/2020