Naturwein – gekommen, um zu bleiben

Naturwein – gekommen, um zu bleiben

Als Alternative zum Mainstream gelten Naturweine längst nicht mehr als Modeerscheinung, sondern haben ihre Nische am Weinmarkt dauerhaft erobert.

Manchmal verkoste ich Weine, die sind so langweilig, dass ich schreiend die Flucht ergreifen möchte. Primärfruchtig, eiszuckerlhaft, glattgeschliffen, ohne jede Tiefe, ohne jeden Ausdruck kommen sie daher. Fadesse pur. Die Mehrheit der Weintrinker erfreut durchaus sich an solch fruchtigen, geradlinigen Weinen – technisch einwandfreie Produkte, welchen der große Teil des Marktes gehört.

Immer öfter verkoste ich Weine, die sind so spannend und trinkanregend, dass ich gar nicht aufhören möchte zu probieren und weitere Facetten zu entdecken. Abseits vom Mainstream, wo immer mehr Winzer und Winzerinnen ihre Weine mit weniger Technologie und weniger Chemie, dafür mit mehr Zeit, mehr Handwerk und Herzblut herstellen, beginnt die faszinierende Welt der Naturweine.

Geschmackswelten

Manche Experten warfen Naturweinen vor, sie seien ein Rückschritt in finstere Zeiten und wären prinzipiell unsauber. Nun, Geschmäcker sind verschieden, aber wer Natural Wines als generell fehlerhaft bezeichnet, dem fehlt es schlicht an Verkostungserfahrung in diesem Bereich. Natürlich, weniger gelungene Weine gibt es bei den Naturals genauso wie im konventionellen Segment. Naturweine brauchen Aufgeschlossenheit, da sie nur selten dem über Jahrzehnte angelernten Geschmacksprofil eines fruchtig-klar-geschmeidigen Weines entsprechen.

Mittlerweile hat sich die große Aufregung ein wenig gelegt und auch Skeptiker haben sich zumindest an die Existenz der Naturweine gewöhnt. Dennoch bestehen weiterhin begriffliche Verwirrungen und Unklarheiten. Vor allem den Unterschied zwischen Orange Wine und Natural Wine (Naturwein) muss man oft erklären. Die Kurzversion: Der Begriff „Orange Wine“ beschreibt lediglich einen Weinstil, „Natural Wine“ hingegen eine Philosophie, einen ideologischen Zugang zum Weinmachen.

Maischevergoren

Orange Wine ist auf der Maische vergorener Weißwein – nach einer bestimmten Methode hergestellt, wie sein Pendant, der Rosé-Wein. Orange als „die vierte Weinfarbe“ zu bezeichnen, macht durchaus Sinn. Durch den Schalenkontakt – wie bei der Rotweinbereitung – erhalten die Weine nicht nur mehr Farbe, sondern auch kräftige Tannine (Gerbstoffe), die Struktur und Rückgrat verleihen und ein deutliches Unterscheidungsmerkmal zu herkömmlichen Weißweinen sind. Über die Mazerationszeit – die Dauer des Maischekontakts – entscheidet der Winzer/die Winzerin. Je nach Gesundheit des Traubenmaterials, Rebsorte, Jahrgang und gewünschtem Weintyp kann sie wenige Tage bis viele Monate betragen.

Orange Weine müssen nicht zwingend orange sein – das Farbspektrum der Weine ist vielfältig, es reicht von intensiv gelb über zwiebelschalenfarbig und orange bis zu dunklem Bernstein. Manche Weine weisen eine Trübung auf, andere sind klar. Die Trübung bei unfiltrierten Weinen kommt in erster Linie von in Schwebe befindlichen Hefepartikeln und ist kein Zeichen einer Qualitätsminderung. Die Ausbau-Varianten reichen von Holzfässern über Betoneier bis zu Amphoren – oder auch Stahltank.

Sortentypizität anders

Die Aromatik oranger Weine entspricht für einen an primärfruchtige Weißweine gewöhnten Gaumen absolut nicht dem „typischen“ Geschmacksbild bestimmter Rebsorten. Dazu kommt der unerwartete Tanningehalt, der im ersten Eindruck für kräftige Ecken und Kanten sorgt, aber genauso eine Bereicherung am Gaumen ist.
Isabelle Legeron, Master of Wine und Schirmherrin der Naturweinmesse „RAW“ in London und Berlin, erklärt dazu: „Wir alle leiden an einem vorformatierten Gaumen. Rebsorten haben aber viele Stile und Ausdrucksweisen. Wenn es stimmen würde, dass Orange Wines weder Rebsorte noch Terroir zeigen können, wie manche behaupten, dann würde dies auch kein einziger Rotwein können, denn dieser wird schließlich auch auf der Maische vergoren.“

Sortentypizität präsentiert sich hier anders als bei herkömmlichen Weißweinen und ist für Einsteiger nicht leicht zu identifizieren, denn Kräuter, Würze und nussige Noten ergänzen dunkle Fruchtaromen nach Orangen, Feigen, Zitronenzesten, getrockneten Marillen, Zwetschken etc. Dennoch, die Aromasorten Traminer, Sauvignon blanc und Muskateller sind auch in der maischevergorenen Version in der Regel rasch zu erkennen, aber auch die Pfeffrigkeit und die Würze von Grüner Veltliner oder die prägnante Säure und die Filigranität von Riesling müssen nicht verloren gehen. Genau wie Rotweine verfügen die orangen Weine je nach Rebsorte über eine individuelle Tanninstruktur.

Naturwein hat alle Farben

Orange Weine stammen nicht immer aus Bioproduktion, denn es gibt auch konventionelle Weingüter, die sich diesem Weinstil widmen. Die Herstellung von Naturwein beginnt hingegen im Weingarten, der zumindest nach organisch-biologischer, öfter nach biologisch-dynamischer Wirtschaftsweise bearbeitet wird. Auch die Arbeit im Keller folgt dem Prinzip der „low intervention“ oder „minimal intervention“ – möglichst geringe Eingriffe, um möglichst „unbehandelte“ Weine zu erzeugen, die ohne Reinzuchthefen, ohne Temperatursteuerung, mit wenig oder null Schwefelzugabe und ohne andere Weinbehandlungsmittel vinifiziert sowie ohne Filtration und ohne Schönung abgefüllt werden. Essenziell ist, den Weinen jene Zeit zu geben, die sie brauchen. Naturweine sind die Antithese zur industriell hergestellten Massenware, bewegen sich weg vom globalisierten Einheitsgeschmack und umfassen dabei alle Stile: Weiß, Rot, Orange und Rosé sowie die sprudelnde Variante Pet Nat. Das Ziel ist mehr Individualität, Authentizität und sensorischer Tiefgang. Naturweinwinzer sehen den biodynamischen Anbau und die Philosophie der minimalen Eingriffe im Keller als Weg zu noch mehr Qualität.

Bedrohung?

Nicht alle freuen sich über das Phänomen Naturwein, manche empfinden es als unterschwellige Bedrohung. Ein Teil der österreichischen Weinszene verspürt offensichtlich leichtes Entsetzen, wenn Top-Winzer die Errungenschaften der modernen Weinwissenschaft und Kellertechnologie über Bord werfen, weil sie zurück zu unverfälschten und authentischen Weinen wollen.
Zudem macht der Begriff „Naturwein“ gar nicht glücklich, impliziert er doch, dass alle anderen Weine nicht „natürlich“ wären. Gerade in Österreich wird den Konsumenten und Konsumentinnen der Wein gerne als „Naturprodukt“ angepriesen. Tatsächlich ist die Liste der in Österreich zugelassenen Weinbehandlungsmittel lang und umfasst rund 2.500 Mittelchen aus den Produktgruppen Hefepräparate, Bentonite, Enzyme, Gelatine, Entsäuerungsmittel, Tannine, Böckser-Behandlungsmittel, Aktivkohle, Gummi arabicum, Milchsäurebakterien, Hefenährstoffe, Filterhilfsmittel, Eichenholzstücke und so weiter.
Diese Behandlungsmittel und Zusätze sind nicht grundsätzlich böse, sondern erfüllen alle einen bestimmten Zweck. Einige dieser Mittel dienen lediglich dazu, bestimmte unerwünschte Stoffe zu binden – danach werden sie gemeinsam mit diesen wieder vom Wein abgetrennt. Ihr Einsatz ist keineswegs verwerflich – nur, das „Naturprodukt Wein“ rückt ein Stück weiter in die Ferne.

Fixplatz in der Weinwelt

Authentizität, Unverfälschtheit und Individualität gepaart mit Trinkfreude sind gefragter denn je. Wer sich auf die wilde und ungestüme Welt der Naturweine einlässt, wird mit der Entdeckung einer neuen und faszinierenden Geschmackswelt belohnt. Wer manchmal Unsauberkeiten bemängelt, sollte sich zumindest die Frage stellen, ob ein Hauch von Brettanomyces oder eine höhere flüchtige Säure nicht akzeptabler sind, als 200% neues Barrique oder aufdringlich marmeladige Fruchtaromen. Wer an Naturweinen keinen Gefallen findet, darf auch gerne darauf verzichten. Naturweine werden ein Nischenprodukt bleiben, aber bleiben werden sie mit Sicherheit.