Das große Spucken in Wiesbaden

Das große Spucken in Wiesbaden

Die „Vorpremiere der Großen Gewächse“ ist keine gewöhnliche Weinverkostung, sondern ein perfekt organisierter Verkostungs-Marathon mit 400 der besten Weine Deutschlands.

Kurhaus Wiesbaden: Zwanzig weiß gedeckte Tischreihen hintereinander mit je drei Verkostungsplätzen auf der linken und auf der rechten Seite. Im Mittelgang eilen die Sommeliers mit Weinträgern eifrig hin und her, davon abgesehen herrscht eine ruhige, entspannte Arbeitsatmosphäre.

Drei Tage im Verkostungs-Himmel

Viele sprechen vom „best organisierten Tasting weltweit“, wenn der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) zur „Vorpremiere der Großen Gewächse“ Ende August jeden Jahres ins Wiesbadener Kurhaus lädt. Hier werden die neuen trockenen Spitzenweine aus den Toplagen Deutschlands von Weinexperten aus der ganzen Welt probiert – noch bevor die edlen Tropfen am 1. September offiziell in den Verkauf kommen.
Die 120 Verkostungsplätze sind heiß begehrt und Einladungen erfolgen ganz gezielt. Einflussreiche Sommeliers, Weinhändler und Journalisten aus der ganzen Welt – aus China, den USA und Israel, aus Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Skandinavien etc. – dürfen sich ein umfassendes Bild des neuen Jahrgangs machen. An österreichische Journalisten werden üblicherweise zwei bis drei Plätze vergeben.

Deutsche Wein-Elite

Der VDP besitzt fast 200 Mitglieder, Winzer, die nach strengen, selbst auferlegten Qualitätsmaßstäben arbeiten und – obwohl sie nur drei Prozent der gesamtdeutschen Weinernte einfahren – die Aushängeschilder des deutschen Weinbaus sind.
Bei den Großen Gewächsen handelt es sich ausschließlich um trockene Weine von „Großen Lagen“. Die deutsche Parade-Sorte Riesling steht dabei im Fokus, aber je nach Gebiet sind auch Silvaner, Weiß- und Grauburgunder, Chardonnay, Spätburgunder sowie Lemberger (Blaufränkisch) vertreten. Dass ein Großes Gewächs durchschnittlich stolze 32 Euro pro Flasche kostet, müssen Weinfreunde in Kauf nehmen.

Ablenkung unerwünscht

Mein Verkostungsplatz befindet sich in Reihe 17 und am Tisch ist alles vorbereitet, was ich in den nächsten Stunden – und Tagen – benötigen werde: sechs Weingläser, ein Spucknapf, eine Flasche Wasser und ein Wasserglas sowie ein Bestellblock. Ich schalte den Laptop ein und öffne die Liste mit den 420 verfügbaren Weinen. Auf dem Bestellblock notiere ich die Nummer des gewünschten Flights – jener Serie aus sechs Weinen, die ich als nächstes verkosten möchte.
Nachdem man diesen Zettel einem der Sommeliers in die Hand gedrückt hat, werden die Weine kurze Zeit später an den Platz gebracht und kleine Probeschlucke eingeschenkt. Geschluckt wird nur in Ausnahmefällen, denn höchste Konzentration und Disziplin sind schlichtweg notwendig, wenn man möglichst viele Weine probieren will – und das bedeutet kompromissloses Ausspucken. Die Geräusche von 120 Weinprofis beschränken sich daher auf Schlürfen und Spucken, Tippen auf der Notebook-Tastatur und leises Flüstern. Das Weinservice in Wiesbaden klappt weitgehend perfekt – in Nullkommanichts gelangen die gewünschten Weinserien in die Gläser.

Der Jahrgang 2017

So ein Verkostungs-Marathon ist harte Arbeit und am Ende des Tages wird spürbar, dass die Säure der Weine unvermeidlich den Zahnschmelz angreift. Zum Glück ist die Schmerzempfindlichkeit der Zahnhälse vorübergehend und trübt meine Freude am Verkosten nur wenig. Ein bisschen erschöpft, aber zufrieden verlasse ich Wiesbaden und habe zumindest einen ersten Eindruck vom neuen Jahrgang der Großen Gewächse gewonnen – wenn auch in einem sehr frühen Stadium.
Besonders überzeugt haben die Rieslinge von der Nahe mit konstant hoher Qualität – je nach Stil des Winzers mit mehr oder weniger „Wildheit“ und Eigenständigkeit, immer mit Balance, aber auch genügend Kraft und Substanz. Die großen Highlights der Nahe kommen von Dönnhoff, Schäfer-Fröhlich und Emrich-Schönleber. In Franken machen die Silvaner mit Charme, Niveau und Eleganz so richtig Spaß. Idealtypische Sortenvertreter der „Lump“ von Rainer Sauer und die „Hoheleite“ von Paul Weltner. Ganz große Rieslinge aus Rheinhessen haben Klaus-Peter Keller und Wittmann von der Lage Morstein zu bieten, wobei Kellers Hipping mit seiner unglaublichen Tiefe hier nochmals darüber steht. In der Pfalz sind Idig und Mandelgarten-Meerspinne von Steffen Christmann brillant und gehören ebenfalls zur Top-Liga.
Das wichtigste aber ist, den Großen Gewächsen Zeit zu geben. Solche Weine im Keller wegzusperren, lohnt sich ungemein.